Sind Intertextuelle pervers…

…oder nur die Situation, in der sie leben und schreiben Bücher volltexten? Dass mir diese Frage durch den Kopf geht, habe ich – wenn man der jungen Dame Göre Frau auch sonst für nichts dankbar sein kann – Helene Hegemann zu verdanken.

Auf der Suche nach einer nicht dumm klingenden Ausrede für ihre eigenmächtige Selbstbedienung im intellektuellen Supermarkt namens Web blieb die SchriftZusammenStellerin an dem Wort Intertextualität hängen, das perfekt zu ihrem Faible für auftoupierte Formulierungen passt, mir aber bislang gänzlich ungeläufig war.

"Ich habe das nicht einfach munter abgeschrieben. Es geht hier nicht um Plagiarismus, sondern um Intertextualität – ein Arbeitsverfahren, das sehr viele Künstler benutzen."

Helene Hegemann, hier abgeschrieben aus der ZEIT

Ich habe es bis 2010 ohne diese Vokabel durchs schreiberische Berufsleben geschafft, obwohl ich etwa knapp* dreimal so alt bin wie die Altklugschwätzerin Helene H. Aber mein Vater war auch nicht beim Theater. (* Als das Axolotl erschien, war HeHe erst 17.)

Ein anderes geschwollenes Wort, das mir in diesem Kontext spontan einfällt, heißt "Euphemismus". Ein Euphemismus wäre es, der Plagiatorin zugute zu halten, sie habe eine Hommage an die chinesische Leitkultur im Sinn gehabt: Der Ideenlieferant soll gefälligst stolz sein, dass andere seine Einfälle so genial finden, dass sie sie 1:1 in ihr Repertoire aufnehmen.

Wie absurd das ist, merkt man sofort, wenn man sich vorstellt, irgendein Erstsemester hätte 1916 die noch wenig bekannte Allgemeine Relativitätstheorie unter seinem Namen publiziert und diese Tat nachher als Respektsbekundung für Einstein entschuldigt. Soll eine Anmaßung keine mehr sein, weil die bestohlene Geistesgröße im Vergleich zu Einstein ein Zwerg ist? Wer legt fest, ab welcher Genialitätsstufe ein Denker geschützt ist vor Fremden, die sich seine Federn an den Hut stecken wollen? Die geben damit indirekt zu, dass sie noch kleiner sind – sonst hätten sie selber etwas Besseres vorgelegt.

Ein Zitat ist nur dann eins, wenn der Name des Zitierten daneben steht. Selbst die chinesischen Produktpiraten tun nicht so, als hätten sie’s erfunden, sondern schreiben Rolex auf die Uhren und "Zwilling" auf ihre Messer .

Theoretiker wie Julia Kristeva mögen das nicht so eng sehen und behaupten…

„Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes."

…oder wie Roland Barthes über den Tod des Autors philosophieren:

"Der Text ist ein Gewebe von Zitaten aus unterschiedlichen Stätten der Kultur. […] Ein Text ist aus vielfältigen Schriften zusammengesetzt, die verschiedenen Kulturen entstammen und miteinander in Dialog treten, sich parodieren, einander in Frage stellen."

Elendiger Quatsch ist es trotzdem, solche Argumente im Zusammenhang mit dem plattgefahrenen Prenzlberger Mexikolurch anzuführen.

Sprache ist zwar ein Baukastensystem, in dem bestimmte Wörter sich gerne zueinander gesellen. E. A. Rauter warnte zu Recht vor Texten, die "sich selbst schreiben", die also dem Autor wie von selbst aus den Fingern in die Tasten gleiten. Ihnen fehlt die geistige Wertschöpfung – das Nachdenken, das ein Stück erst auf jene schöpferische Gestaltungshöhe hievt, die das Urheberrecht von einem "Werk" verlangt.

Natürlich arbeiten Autoren mit Redewendungen, Metaphern, Phrasen, geflügelten Worten, Agenturdeutsch, PR-Floskeln. Recyclingdeutsch vom Wortstoffhof. Darum ist einfache Versatzstückprosa – wie eine dpa-Meldung zur Gesundheitsreform – sicherlich treffend beschrieben als "Gewebe von Zitaten", die niemand mehr zu einem Ur-Urheber zurückverfolgen kann.

Aber diese Art von Intertextualität entsteht unbewusst.

Bewusst intertextuell arbeite ich, wenn ich – wie in der Überschrift dieses Blogposts – einen Filmtitel paraphrasiere. Oder wenn ich hier auf Axel Hackes Wortstoffhof anspiele: Dass es einen Recylinghof für Wörter geben könnte, ist auf dem fruchtbaren Mist des Kollegen Hacke gewachsen, aber der schrieb zunächst vom Sprach-Wertstoffhof. Ich fragte mich, warum er sich so umständlich ausdrückt und nicht einfach "Wortstoffhof" sagt. Und siehe da, bald verwendete er diesen Begriff tatsächlich. Ich plagiiere hier also nicht, nutze aber schamlos den Umstand aus, dass Hacke das Bonmot – das ich für mich behalten hatte – in die Welt gesetzt hat. Aber: Es ist 1 (in Worten: ein einziges) Wort, über das man hier streiten könnte. Ein verbales Gewürz wie die "Nullerjahre", die mir vor nicht allzu langer Zeit die Textchefs noch rausstrichen und die sich jetzt durchsetzen.

Im Gegensatz zu solchen nicht-exklusiven Wortschöpfungen, für die es nur einer mittelmäßig ausgeprägten Kreativität bedarf, zeichnet sich die Collagistenkunst einer Helene Hegemann aus durch Absatzfetzen mit unverwischbarem Fingerabdruck, durch Formulierungen, die so schräg, hässlich, originell, pathologisch widerwärtig oder genial daneben sind, dass sie niemandem mal eben so einfallen. Sie sind nicht naheliegend. Sie entstammen nicht dem kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft. Sie sind für meinen Geschmack zwar nicht lesenswert, aber auf alle Fälle sehr individuell. Niemand, der nicht auf der Brennsuppn dahergschwommen kimmt, würde sich trauen, etwas so leicht Googlebares abzukupfern. Deshalb tappten auch so viele Literaturkardinäle in die Falle. Die Kollegen vom "Fäuleton" hielten das für helenische Originalität, weil sie die Blogosphäre nicht gut genug kannten (ist ja auch schwer).

Nun winden sie sich wie freigelegte Regenwürmer, wenn sie jemand mit ihren freischwebend substanzlosen Elogen konfrontiert. Da bekommt das Wort Rezens-Enten eine ganz neue Trenn-Vorschrift.

P.S. Bevor ich hier den Rezens-Enten die Daunen ausreiße, um mich damit zu schmücken: diese Viecher sind schon 160 Jahre alt. Ein gewisser A. Hopf aus Berlin legte sie schon 1850 in seinem Werk "Daniel am Guckkasten" der Figur "Willem" in den Mund:

Ick bekümmere mir ville um det Geschnater von Rezens Enten. Wenn een Wasser noch so klar is, sie schnattern solange dadrin rum, bis et aussieht wie ’ne Mistpfütze. Eene schwimmt hinter de Andere her; un wat der Zugführer Genieß- oder Ungenießbaret erwischt, det packt er mit seinen scharfen Schnabel un zermalt et. Wat er verdaut von sich gibt, da beißen sich die Hintersten drum. Jeder hascht een Stücksken, un so wird et aber- un abermals verdaut, bis zuletzt keen Mensch mehr weeß, wat et urspringlich gewesen is.

Auch ein Zeitgenosse war schneller als ich mit dem Wortspiel.

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